Postcards from London

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Postcards from London, UK 2018, 90 Min., Regie: Steve McLean, mit Harris Dickinson


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Regisseur Steve McLean hat sich nach seinem hochgelobten Erstling „Postcards from America“ (1994) lange Zeit für seinen zweiten Film gelassen. Das Warten hat sich gelohnt! Diesmal schickt er uns „Postcards from London“, eine selbstironische Ode an die Kunst der käuflichen Liebe, in der Escorts als die einzig wahren Träger schwuler Kulturgeschichte gelten. Die lustvolle Erweckungsgeschichte des jungen Jim aus der englischen Provinz in einem zum Neonlicht-Viertel hochstilisierten Soho der Gegenwart ist filmisch eng verwoben mit Fassbinders „Querelle“ (1982) und Van Sants „My Own Private Idaho“ (1991), mit den Bilderwelten Caravaggios und Derek Jarmans. In der Hauptrolle glänzt Harris Dickinson, der seit dem preisgekröntem Jugenddrama „Beach Rats“ (2017) zu einem der aufregendsten Darsteller seiner Generation zählt.

Im Jahre 1994 feierte „Postcards from America“, das Spielfilmdebüt des britischen Regisseurs und Drehbuchautors Steve McLean, seine Premiere in Toronto. Als Basis für sein biographisches Drama dienten McLean, der aus dem Musikvideo-Bereich kam und als Artdirector tätig war, die Aufzeichnungen des US-Multimedia-Künstlers und Schwulenaktivisten David Wojnarowicz, der 1992 im Alter von 37 Jahren an den Folgen von Aids gestorben war. „Postcards from America“ stand ganz in der Tradition des New Queer Cinema: ein Film voller Wut, ambivalenten Figurenzeichnungen, mit einer extrem experimentierfreudigen Dramaturgie und radikal-ungewöhnlicher Ästhetik.

Beinahe ein Vierteljahrhundert später meldet sich McLean nun zurück und schickt uns abermals kinematografische Postkarten in Form einer schwulen Coming-of-Age-Story: „Postcards from London“ lässt sowohl erzählerisch als auch in der formalen Umsetzung einige Parallelen zu seinem Erstling erkennen: von der Schilderung einer umwegreichen Selbstfindung bis zu dessen energischer, experimenteller Gestaltung. Und doch ist McLeans neue Arbeit überraschend anders: ein Film, der von einem herrlichen Meta-Humor erfüllt ist und sich in komisch-absurder Manier mit queerer Kulturhistorie befasst.

Überwog in „Postcards from America“ noch der Zorn, so ist es im neuen Film das Spielerische, was allerdings nicht bedeutet, dass McLean seine Themen und sein Personal inzwischen weniger ernst nehmen würde. „Postcards from London“ mag skurril-heiter daherkommen und uns mit Selbstbewusstsein und Ironie eine Fülle von Zitaten und Verweisen auf Dialog- und Bildebene anbieten; im Zentrum steht aber auch hier der schwierige Weg einer Identitätsfindung. Zudem blitzt in der genüsslich vorgetragenen Künstlichkeit immer wieder eine bemerkenswerte Wahrhaftigkeit auf – wie Stolpersteine aus Desillusionierungen, Unsicherheiten und Ängsten.

Held der Geschichte ist der 18-jährige Jim: ein ausnehmend hübscher, naiver Smalltown-Boy aus Essex mit hochfliegenden Träumen, die ihn nach London, in „eine Welt voller Geheimnisse und Möglichkeiten“, ziehen. Seine Eltern sind wenig angetan davon, dass sich ihr Sohn ohne Ausbildung in den urbanen Kosmos stürzen möchte, geben Jim aber letztlich ihren Segen: „Es wird schon gut gehen.“ Diese Szene am Küchentisch ist nicht nur wunderbar undramatisch, sie ist auch überaus originell, da radikal reduziert in Szene gesetzt: Die heimatlichen „vier Wände“, denen der junge Mann rasch entfliehen will, sind tatsächlich nur vier Wände eines winzig kleinen, scheußlich tapezierten Raumes im dunklen Nirgendwo, in dem kaum mehr als ein Mini-Tisch und drei Stühle stehen. Mit Schwung fährt die Kamera durch die Tür hinein und wieder hinaus.

Und auch die große Stadt zeigen McLean und seine Kamerafrau Annika Summerson nicht im realistischen Stil: Die Dreharbeiten fanden komplett im Studio statt; das als queere Viertel bekannte Soho im Londoner West End ist hier eine artifizielle, dunkelbunte Kulisse aus Neonlichtern, in welcher jeder Hinterhof, jedes Nachtlokal und jedes (Hotel-)Zimmer einen schäbig-schönen Glanz bekommt. Erinnerungen an Rainer Werner Fassbinders Jean-Genet-Adaption „Querelle“ (1982) werden wach, insbesondere in den Bar-Szenen, in denen unerhört attraktive Statist_innen in Matros_innen-Uniformen auftreten und die erotisch-melancholische Atmosphäre von Fassbinders Film perfekt auf die britische Metropole übertragen.

In jener mythisch anmutenden Bar lernt Jim, nachdem er auf der Straße übernachten musste und dort prompt ausgeraubt wurde, das exzentrische Quartett David, Jesús, Marcello und Victor kennen. Die vier jungen Männer verdienen ihr Geld als sogenannte Raconteure: als Escorts für Männer aus gehobenen Kreisen, die ein Faible für Kunst haben und deshalb nach dem Sex Wert auf geistreiche Konversation über Malerei, Literatur und Cineastik legen, über Velázquez, Goya, Gauguin, Wilde oder Pasolini sprechen wollen – oder sich gar in Form von elaborierten Rollenspielen in vergangene Zeiten hineinimaginieren möchten. Alsbald hat sich Jim das nötige Wissen angeeignet, um zu einem der begehrtesten Raconteure zu avancieren. Und er wird zur Muse des älteren Malers Max.

„Postcards from London“ hat spürbares Vergnügen am Namedropping – und versteht es zugleich, genau damit Vergnügen zu bereiten. Biographische Versatzstücke zahlreicher queer-relevanter Künstler werden präsentiert. Jims Funktion als Muse etwa wird unmissverständlich mit Francis Bacons Liebhaber/Muse George Dyer und mit dem sagenhaft hölzern agierenden Andy-Warhol-Star Joe Dallesandro in Verbindung gebracht. Anderen Referenzen widmet sich „Postcards from London“ noch entschiedener, vor allem dem italienischen Maler Caravaggio, der seinerzeit das Profane mit dem Sakralen kombinierte, indem er Obdachlosen und Prostituierten etwas Heiliges verlieh. Nicht zuletzt dank Derek Jarmans wuchtigem, vor Erotik fast zerberstendem Biopic „Caravaggio“ (1986) gilt der Künstler als Schwulenikone.

McLean streut nicht nur diverse dialogische Exkurse und visuelle Zitate (der Obstkorb!) ein. Er lässt Caravaggio auch höchstselbst in Erscheinung treten – in Halluzinationen, die den sensiblen Jim immer dann ereilen, wenn er direkt mit großen Kunstwerken konfrontiert wird. Das sogenannte Stendhal-Syndrom ist eine rare psychosomatische Störung, die bei Jim dazu führt, dass er regelmäßig ohnmächtig wird und sich in Tableaux vivants hineinhalluziniert, in denen er zusammen mit wechselnden Personen seines Umfelds für Caravaggio Modell steht. Die Theatralik dieser Passagen greift klug die Inszenierungsmethode Jarmans und dessen Hinneigung zum Magisch-Traumhaften auf. In diesen Halluzinationen, aber auch in Jims Arbeitsverhältnissen, wird zugleich über Objektivierung nachgedacht: „Letztendlich sind wir doch nur Fleischstücke“, resümiert Jim in einem Gespräch mit seinen vier Kollegen und Freunden. Für den Maler Max ist Jim lediglich „Material“; der cholerische Caravaggio wünscht sich, dass seine Modelle einfach mal „den Mund halten“ würden; und auch der ehemalige Raconteur Paul will Jim für eigene Zwecke ausnutzen.

McLeans Werk zeigt sich jedoch angenehm optimistisch und bewegt sich in Richtung Empowerment: Jim muss sich nicht auf die passive Rolle festlegen lassen, er muss keine Projektionsfläche bleiben, sondern kann selbst etwas erschaffen. In seiner positiv-zuversichtlichen Haltung unterscheidet sich der Film auch von Gus Van Sants „My Own Private Idaho“ (1991), einem zentralen Vertreter des New Queer Cinema, dessen Plot, Figurenzeichnung und Umsetzung in vieler Hinsicht als Vorbilder für „Postcards from London“ erkennbar sind. Die Grimmigkeit von Van Sants Roadmovie-Drama, welches kein wirkliches Entkommen für den von River Phoenix verkörperten Protagonisten sieht, wird von Hoffnung abgelöst. Dabei ist es kein naiver Glaube, der am Ende von Jims Geschichte steht, sondern der Mut, zu handeln und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu setzen. Ironie und Zuversicht – das ist die selten gewagte Verquickung, die McLean hier auf beeindruckende Weise gelingt.

Quelle: Andreas Köhnemann in sissymag.de