Caracas, eine Liebe: Unterschied zwischen den Versionen

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Vigas' kontrollierte Inszenierung fügt sich zu einer ebenso rätselhaften wie nuancierten Charakterstudie, die sich nicht vordergründig um biografische Erfahrungen dreht (ein Subplot um Armandos verschwundenen Vater wird lediglich angedeutet), sondern durch die widersprüchlichen Handlungen der Protagonisten beziehungsweise ihr vielsagendes Schweigen an Konturen gewinnt. Dass die Dramaturgie des Films nie unter diesen Leerstellen leidet (das Drehbuch basiert auf einer Geschichte von »Amores Perros«-Autor Guillermo Arriaga), ist dem aus den Filmen des Chilenen Pablo Larraín bekannten Alfredo Castro und Newcomer Luis Silva zu verdanken, die in dem emotionalen Pulverfass zwischen Anziehung, Verachtung und Verletzlichkeit durch äußerste Zurückhaltung überzeugen. Armando und Elder sind – jeder auf seine Weise – Getriebene, Opfer ihrer jeweiligen Lebenswelten. Doch unter Vigas' umsichtiger Regie ist »Caracas, eine Liebe« kein Sozialdrama geworden, sondern eine menschliche Tragödie.
Vigas' kontrollierte Inszenierung fügt sich zu einer ebenso rätselhaften wie nuancierten Charakterstudie, die sich nicht vordergründig um biografische Erfahrungen dreht (ein Subplot um Armandos verschwundenen Vater wird lediglich angedeutet), sondern durch die widersprüchlichen Handlungen der Protagonisten beziehungsweise ihr vielsagendes Schweigen an Konturen gewinnt. Dass die Dramaturgie des Films nie unter diesen Leerstellen leidet (das Drehbuch basiert auf einer Geschichte von »Amores Perros«-Autor Guillermo Arriaga), ist dem aus den Filmen des Chilenen Pablo Larraín bekannten Alfredo Castro und Newcomer Luis Silva zu verdanken, die in dem emotionalen Pulverfass zwischen Anziehung, Verachtung und Verletzlichkeit durch äußerste Zurückhaltung überzeugen. Armando und Elder sind – jeder auf seine Weise – Getriebene, Opfer ihrer jeweiligen Lebenswelten. Doch unter Vigas' umsichtiger Regie ist »Caracas, eine Liebe« kein Sozialdrama geworden, sondern eine menschliche Tragödie.


Quelle: [https://www.epd-film.de/filmkritiken/caracas-eine-liebe epd-film}
Quelle: [https://www.epd-film.de/filmkritiken/caracas-eine-liebe epd-film]

Version vom 24. Februar 2019, 00:52 Uhr

Caracas, eine Liebe (Desde allá), VE/MX 2015, 94 Min., Regie: Lorenzo Vigas, mit Alfredo Castro, Luis Silva, Jericó Montilla, Catherina Cardozo, Marcos Moreno, Jorge Luis Bosque

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Nicht anfassen, nur gucken. So lauten die Regeln, wenn Armando (Alfredo Castro) sich Jungen von den Straßen in seine Wohnung holt. Es geht um sexuelle Gefälligkeiten ohne Körperkontakt: Die Jungen müssen sich ausziehen, während Armando auf der Couch masturbiert. Die Transaktionen werden ebenso geschäftsmäßig abgewickelt wie die Bedürfnisbefriedigung, am Ende wechseln Geldscheine den Besitzer. Der venezolanische Regisseur Lorenzo Vigas führt in seinem Spielfilmdebüt »Caracas, eine Liebe« ganz unvermittelt in das Leben des alleinstehenden Zahntechnikers ein: Armando tritt buchstäblich aus einer Unschärfe ins Bild. Diese erste Einstellung verrät bereits sein Verhältnis zur Welt, durch die er sich wie ein Geist bewegt.

Außer zu seiner Schwester hat Armando kaum Kontakt zu anderen Menschen, seinen Job – die Herstellung von Zahnprothesen – erledigt er mit duldsamer Routine. Auf der Suche nach neuen Jungen entwickelt er allerdings eine raubtierhafte Energie, die die Kamera in geradezu dokumentarischer Manier aufnimmt. Sie heftet sich in der Vorwärtsbewegung an Armandos Rücken. Diese in den Filmen der Dardenne-Brüder stilbildend gewordene Rückansicht signalisiert Mobilität, impliziert aber auch bereits die gesellschaftlichen Restriktionen, gegen die Armando anrennt. Somit ist der spanische Originaltitel »Desde allá« (Von Weitem) in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Die Distanz, aus der Armando die Straßenjungen beobachtet, findet Entsprechung in seiner Entfremdung von der homophoben Gesellschaft.

Unter solchen gesellschaftlichen Verhältnissen sind die sexuellen Avancen Armandos gefährlich unvorsichtig: Wortlos bietet er auf der Straße fremden Jungen Geld an. Seine jüngste Entdeckung entpuppt sich kaum überraschend als Straßengangster, der Armando bei der ersten Gelegenheit niederschlägt und ausraubt. Armando lässt sich von der gewalttätigen Reaktion nicht im Geringsten beeindrucken, im Gegenteil; er beginnt den Jungen zu verfolgen. Elder (Luis Silva), so sein Name, geht widerwillig auf ein zweites Treffen ein – in erster Linie, weil er auf ein Auto spart. Die knappen Dialoge und die langen, klaustrophobisch verengten Einstellungen entwickeln eine Spannung, die sich erkennbaren psychologischen Mustern entzieht.

Mit seiner nüchternen, rigorosen Bildsprache lässt Vigas offen, worin genau die gegenseitige Anziehungskraft dieses ungleichen Duos besteht. Die taxierenden Blicke suggerieren etwas Unausgesprochenes zwischen Armando und Elder, das über eine bloße monetäre Übereinkunft hinausgeht. Aus dem sexuellen Interesse Armandos erwächst eine Zuneigung, die die sozialen Realitäten jedoch nie vollständig überwindet. Das Geld erzeugt Abhängigkeiten, die der Junge schamlos ausnutzt. Als Elder von den Brüdern seiner Freundin verprügelt wird, pflegt Armando ihn in seiner Wohnung gesund. Doch das sprunghafte Verhalten des Jungen stellt das Vertrauensverhältnis immer wieder auf die Probe.

Vigas' kontrollierte Inszenierung fügt sich zu einer ebenso rätselhaften wie nuancierten Charakterstudie, die sich nicht vordergründig um biografische Erfahrungen dreht (ein Subplot um Armandos verschwundenen Vater wird lediglich angedeutet), sondern durch die widersprüchlichen Handlungen der Protagonisten beziehungsweise ihr vielsagendes Schweigen an Konturen gewinnt. Dass die Dramaturgie des Films nie unter diesen Leerstellen leidet (das Drehbuch basiert auf einer Geschichte von »Amores Perros«-Autor Guillermo Arriaga), ist dem aus den Filmen des Chilenen Pablo Larraín bekannten Alfredo Castro und Newcomer Luis Silva zu verdanken, die in dem emotionalen Pulverfass zwischen Anziehung, Verachtung und Verletzlichkeit durch äußerste Zurückhaltung überzeugen. Armando und Elder sind – jeder auf seine Weise – Getriebene, Opfer ihrer jeweiligen Lebenswelten. Doch unter Vigas' umsichtiger Regie ist »Caracas, eine Liebe« kein Sozialdrama geworden, sondern eine menschliche Tragödie.

Quelle: epd-film